Wieder einmal wird ein Verfahren eingestellt, das eigentlich ein deutliches Signal hätte setzen müssen. Ein Autofahrer überholt einen Radfahrer zu eng, gefährdet ihn – und die Staatsanwaltschaft Stuttgart sieht darin kein strafbares Verhalten, sondern lediglich eine Ordnungswidrigkeit. Begründung: „Es ist zugunsten des Beschuldigten von einem Augenblicksversagen auszugehen.“
Wenn Gefährdung zur Bagatelle wird
Was in der Beamtensprache harmlos klingt, beschreibt in der Realität eine Situation, die Radfahrende täglich erleben: Autos, die mit zu wenig Abstand überholen, weil ein paar Sekunden Geduld zu viel verlangt sind. Der Unterschied zwischen „Augenblicksversagen“ und „Rücksichtslosigkeit“ entscheidet hier darüber, ob eine Tat strafbar ist oder nicht – für die Betroffenen aber macht er keinen Unterschied. Die Gefahr bleibt real, der Schutz aus.
Das Signal, das von solchen Entscheidungen ausgeht, ist fatal: Wer beim Überholen gegen § 5 Abs. 4 StVO verstößt, kann sich weiterhin darauf verlassen, dass ein „Moment der Unachtsamkeit“ genügt, um straffrei davonzukommen. Das Opfer darf sich dagegen mit dem Hinweis auf die Verwaltungsbehörde begnügen.
Ein gefährliches Signal
In der Begründung heißt es:
„Erst im Kreuzungsbereich nach der Haltestelle Kaltental kam es aufgrund einer Verengung der Straße zu einer Annäherung von Beschuldigtem und Geschädigtem. Insoweit ist zugunsten des Beschuldigten von einem Augenblicksversagen auszugehen und es kann nicht unterstellt werden, dass sich der Beschuldigte aus eigensüchtigen Beweggründen, etwa um ungehindert vorwärts zu kommen, über seine Pflichten im Straßenverkehr hinweggesetzt hat.“
Diese Passage offenbart das zentrale Problem: Das bewusste oder unbewusste Missachten des vorgeschriebenen Abstands beim Überholen von Radfahrenden wird juristisch verharmlost. Wer Rad fährt, weiß, dass solche „Augenblicksversagen“ alltäglich sind – und potenziell tödlich enden können. Eine Entscheidung wie diese vermittelt Autofahrenden, dass gefährliches Verhalten keine ernsthaften Konsequenzen hat, solange keine grobe Rücksichtslosigkeit oder Absicht nachgewiesen werden kann.
Ein strukturelles Problem
Diese juristische Logik folgt einem Muster: Nur wer „grob verkehrswidrig und rücksichtslos“ handelt, kann wegen Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) belangt werden. Doch die Schwelle dafür liegt so hoch, dass gefährliches Verhalten fast immer als bloße Ordnungswidrigkeit endet. So wird systematisch verharmlost, was objektiv Menschenleben gefährdet.
Wenn die Staatsanwaltschaft schreibt, der Beschuldigte habe sich „nicht aus eigensüchtigen Beweggründen über seine Pflichten im Straßenverkehr hinweggesetzt“, klingt das, als ginge es um die innere Haltung – nicht um das tatsächliche Verhalten. Das ist der eigentliche Skandal: Die Absicht zählt mehr als die Gefahr.
![Das Bild zeigt ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Es handelt sich um eine Mitteilung an eine Person (Herrn Dr. [Name geschwärzt]), dass ein Ermittlungsverfahren gegen eine andere Person (Name geschwärzt) wegen Straßenverkehrsgefährdung eingestellt wurde. Das Verfahren wird jedoch als Ordnungswidrigkeit an die Verwaltungsbehörde abgegeben. Hintergrund ist ein Vorfall vom 23.09.2021, bei dem der Beschuldigte beim Überholen eines Fahrradfahrers auf der Böblinger Straße in Stuttgart den Sicherheitsabstand nicht eingehalten und den Fahrradfahrer gefährdet haben soll. Die Staatsanwaltschaft sieht jedoch die Voraussetzungen für eine Anklage wegen Straßenverkehrsgefährdung nicht als gegeben an, da die erforderliche Rücksichtslosigkeit nicht mit der notwendigen Sicherheit nachzuweisen sei. Ein Dashcam-Video des Vorfalls liegt vor. Das Schreiben enthält außerdem Informationen zum Datenschutz und Kontaktdaten der Staatsanwaltschaft.](https://www.keinoeffentlichesinteresse.org/wp-content/uploads/2025/10/034_staatsanwaltschaft_s1-720x1024.jpeg)

Fehlende Abschreckung – fehlender Schutz
Der Gesetzgeber hat mit § 315c StGB bewusst hohe Anforderungen für eine Strafbarkeit gesetzt: Nur wer grob verkehrswidrig und rücksichtslos handelt, macht sich strafbar. Doch in der Praxis führt diese Hürde dazu, dass Radfahrende kaum rechtlichen Schutz genießen, selbst wenn sie objektiv gefährdet wurden. Der Verweis auf „Augenblicksversagen“ ist zu einem juristischen Freifahrtschein geworden.
Solche Einstellungsbescheide senden ein fatales Signal: Sie normalisieren riskantes Verhalten und untergraben das Vertrauen in den Rechtsstaat. Wer sich an die Regeln hält, wird gefährdet – und wer sie missachtet, darf auf Nachsicht hoffen.

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