#034: »Augenblicksversagen« – oder strukturelles Versagen?

📅 September 2021   🏛️ Staatsanwaltschaft Stuttgart   💬 3 Kommentare Kommentar schreiben

Ein Autofahrer überholt einen Radfahrer zu eng – und das Verfahren wird eingestellt. Was als „Augenblicksversagen“ gilt, ist in Wahrheit ein strukturelles Problem: gefährliches Verhalten bleibt folgenlos, während die Verantwortung erneut bei den Schwächeren im Verkehr landet.


Wieder einmal wird ein Verfahren eingestellt, das eigentlich ein deutliches Signal hätte setzen müssen. Ein Autofahrer überholt einen Radfahrer zu eng, gefährdet ihn – und die Staatsanwaltschaft Stuttgart sieht darin kein strafbares Verhalten, sondern lediglich eine Ordnungswidrigkeit. Begründung: „Es ist zugunsten des Beschuldigten von einem Augenblicksversagen auszugehen.“

Wenn Gefährdung zur Bagatelle wird

Was in der Beamtensprache harmlos klingt, beschreibt in der Realität eine Situation, die Radfahrende täglich erleben: Autos, die mit zu wenig Abstand überholen, weil ein paar Sekunden Geduld zu viel verlangt sind. Der Unterschied zwischen „Augenblicksversagen“ und „Rücksichtslosigkeit“ entscheidet hier darüber, ob eine Tat strafbar ist oder nicht – für die Betroffenen aber macht er keinen Unterschied. Die Gefahr bleibt real, der Schutz aus.

Das Signal, das von solchen Entscheidungen ausgeht, ist fatal: Wer beim Überholen gegen § 5 Abs. 4 StVO verstößt, kann sich weiterhin darauf verlassen, dass ein „Moment der Unachtsamkeit“ genügt, um straffrei davonzukommen. Das Opfer darf sich dagegen mit dem Hinweis auf die Verwaltungsbehörde begnügen.

Ein gefährliches Signal

In der Begründung heißt es:

„Erst im Kreuzungsbereich nach der Haltestelle Kaltental kam es aufgrund einer Verengung der Straße zu einer Annäherung von Beschuldigtem und Geschädigtem. Insoweit ist zugunsten des Beschuldigten von einem Augenblicksversagen auszugehen und es kann nicht unterstellt werden, dass sich der Beschuldigte aus eigensüchtigen Beweggründen, etwa um ungehindert vorwärts zu kommen, über seine Pflichten im Straßenverkehr hinweggesetzt hat.“

Diese Passage offenbart das zentrale Problem: Das bewusste oder unbewusste Missachten des vorgeschriebenen Abstands beim Überholen von Radfahrenden wird juristisch verharmlost. Wer Rad fährt, weiß, dass solche „Augenblicksversagen“ alltäglich sind – und potenziell tödlich enden können. Eine Entscheidung wie diese vermittelt Autofahrenden, dass gefährliches Verhalten keine ernsthaften Konsequenzen hat, solange keine grobe Rücksichtslosigkeit oder Absicht nachgewiesen werden kann.

Ein strukturelles Problem

Diese juristische Logik folgt einem Muster: Nur wer „grob verkehrswidrig und rücksichtslos“ handelt, kann wegen Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) belangt werden. Doch die Schwelle dafür liegt so hoch, dass gefährliches Verhalten fast immer als bloße Ordnungswidrigkeit endet. So wird systematisch verharmlost, was objektiv Menschenleben gefährdet.

Wenn die Staatsanwaltschaft schreibt, der Beschuldigte habe sich „nicht aus eigensüchtigen Beweggründen über seine Pflichten im Straßenverkehr hinweggesetzt“, klingt das, als ginge es um die innere Haltung – nicht um das tatsächliche Verhalten. Das ist der eigentliche Skandal: Die Absicht zählt mehr als die Gefahr.

Das Bild zeigt ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Es handelt sich um eine Mitteilung an eine Person (Herrn Dr. [Name geschwärzt]), dass ein Ermittlungsverfahren gegen eine andere Person (Name geschwärzt) wegen Straßenverkehrsgefährdung eingestellt wurde. Das Verfahren wird jedoch als Ordnungswidrigkeit an die Verwaltungsbehörde abgegeben. Hintergrund ist ein Vorfall vom 23.09.2021, bei dem der Beschuldigte beim Überholen eines Fahrradfahrers auf der Böblinger Straße in Stuttgart den Sicherheitsabstand nicht eingehalten und den Fahrradfahrer gefährdet haben soll. Die Staatsanwaltschaft sieht jedoch die Voraussetzungen für eine Anklage wegen Straßenverkehrsgefährdung nicht als gegeben an, da die erforderliche Rücksichtslosigkeit nicht mit der notwendigen Sicherheit nachzuweisen sei. Ein Dashcam-Video des Vorfalls liegt vor. Das Schreiben enthält außerdem Informationen zum Datenschutz und Kontaktdaten der Staatsanwaltschaft.
Das Bild zeigt einen Auszug aus einem Schreiben (Seite 2) der Staatsanwaltschaft. Es geht um eine Beurteilung eines Vorfalls im Straßenverkehr, bei dem es zu einer Annäherung zwischen einem Beschuldigten und einem Geschädigten kam. Die Staatsanwaltschaft geht von einem Augenblicksversagen des Beschuldigten aus und sieht kein Vergehen der Straßenverkehrsgefährdung, sondern lediglich eine Ordnungswidrigkeit. Es wird mitgeteilt, dass Ordnungswidrigkeiten von der Verwaltungsbehörde weiterverfolgt werden. Abschließend enthält das Schreiben eine Beschwerdebelehrung und eine Grußformel. Es wird darauf hingewiesen, dass das Schreiben elektronisch erstellt wurde und keine Unterschrift enthält.

Fehlende Abschreckung – fehlender Schutz

Der Gesetzgeber hat mit § 315c StGB bewusst hohe Anforderungen für eine Strafbarkeit gesetzt: Nur wer grob verkehrswidrig und rücksichtslos handelt, macht sich strafbar. Doch in der Praxis führt diese Hürde dazu, dass Radfahrende kaum rechtlichen Schutz genießen, selbst wenn sie objektiv gefährdet wurden. Der Verweis auf „Augenblicksversagen“ ist zu einem juristischen Freifahrtschein geworden.

Solche Einstellungsbescheide senden ein fatales Signal: Sie normalisieren riskantes Verhalten und untergraben das Vertrauen in den Rechtsstaat. Wer sich an die Regeln hält, wird gefährdet – und wer sie missachtet, darf auf Nachsicht hoffen.

ℹ️ Bitte beachte, dass die gemeldeten Fälle nicht vollumfänglich überprüft werden können. Es liegt außerhalb meiner Möglichkeiten, die Richtigkeit aller Informationen zu verifizieren.

Fall aus

veröffentlicht am

Schlagwörter:

Das hat für mich Interesse

Hinterlasse einen Kommentar, um dein Interesse an diesem Fall Kund zu tun! Je mehr Menschen dies tun um so besser! (Die Beiträge werden manuell freigeschaltet)

3 Antworten

  1. Luuk

    Wieder ein Beispiel dafür, warum Schutzstreifen gefährlich sind. Sie suggerieren dem Autofahrer, dass hier 2 Spuren sind und man daher nebeneinander fahren kann. Dann wird die Spur enger und sowas kommt dabei heraus.

    Entschuldigt das individuelle Fehlverhalten zwar nicht. Allein das Nebeneinanderfahren ist schon verkehrswidrig. Der Autofahrer befindet sich die ganze Zeit in einem Überholvorgang – nicht erst an der Engstelle. Möglicherweise Tatbestand 105604: „Sie überholten, obwohl die von Ihnen gefahrene Geschwindigkeit nicht wesentlich höher als die des überholten Fahrzeugs war.“ oder das klassische „Überholen bei unklarer Verkehrslage.“

    Dass der Autofahrer an der Engstelle aber nicht abgebrochen, sondern durchgezogen hat, spricht für eine Straßenverkehrsgefährdung.

  2. Wolfgang

    Es muss nicht immer gegen Strafrecht verstoßen werden, wenn dämlich überholt wird.

    Es krankt schon die BKatV und der Bundeseinheitliche Tatbestandskatalog, dessen Bußgelder von einer schreckhaft geführten Debatte völlig unverhältnismäßig „angepaßt“ werden – sei es die Rettungsgasse-Diskussion oder das Überholen, das mal 30, mal 300 Euro kosten kann. Hier setzt sich auch niemand im Ministerium hin und vereinheitlicht die Geldstrafen für analoge Tatbestände.

    Das fängt schon innerorts an, wo eine verkehrswidrige Überholung ohne ausreichenden Seitenabstand einmal 30 Euro kostet (Tatbestandsnr. 105112), aber 70 Euro plus Flenspunkt wenn Zeichen 277.1 (Überholverbot von einspurigen Fahrzeugen) missachtet wurde (TBNR 141627, 85/105 Euro bei Gefährdung/Unfall). In diesem Fall ist sogar noch von „anderen Verkehrsteilnehmern“ die Rede. Nur wenn man als Radfahrer zufällig zur Gruppe der Kinder, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen gehört, kommt noch TBNR 103708 infrage (80 Euro, 1 Punkt).

    Der Standardsatz (TBNR 105612ff.) wenn man bei „unklarer Verkehrslage“ oder fehlender Übersicht über die gesamte Überholstrecke überholt, liegt dann gleich bei 150 Euro plus einem Flenspunkt. Bei Behinderung, Gefährdung ist dann oft nur der Gegenverkehr gemeint (250 bzw. 300 Euro mit 2 Flenspunkten, 1 Monat Fahrverbot). Der oftmals überholte und geschnittene Radfahrer kommt darin nicht vor.

    Nehmen wir mal TBNR 105607. Dies setzt außer „Behinderung des Gegenverkehrs“ und „Gefährdung anderer“ nichts weiter voraus. Kostet theoretisch 120 Euro plus Flenspunkt, kommt in Einbahnstraßen oder den 2,25m-Gässchen mit „Schutzstreifen“ aber nicht zur Anwendung.

    Viele der neu eingeführten Regeln wie das Abbiegen mit Schrittempo bei Fahrzeugen über 3,5 Tonnen werden im täglichen Verkehr bis auf wenige kontrollierte Ausnahmen ignoriert und verkommen so zu reinen Paragrafen, um bei einem Unfall die Haftungsquote festlegen zu können. Und die Politik kann sich dann auf die Schulter klopfen und sagen: „Seht, wir haben ja Regeln gemacht.“

  3. WuhletalRadler

    Boa was muss man rauchen?
    Lieber Staatsanwalt wie kann man bei dem Verhalten, des Autofahrers von Momentversagen sprechen?
    Man sieht in dem Video ganz genau, dass er zögert, er weiß das es falsch ist, aber er fährt dann an der Denkbar schlechtesten Stelle vorbei. Das ist ein versuchter Mord aus niederen Beweggründen, sowas muss immer verfolgt werden! Passiert dies nicht, wird es auf kurz oder lang die Folge haben, dass Autofahrer sich bei solchen Manövern im Recht fühlen, (Spoiler tun sie schon) was denken sie ist die Reaktion der Radfahrer, wenn sowas auf Dauer Straffrei bleibt? Selbstjustiz? Schon mal gehört? Wollt ihr das? Btw. noch eine kleine Anmerkung, der Rechtsstaat steht explizit im Grundgesetz 😉 wäre doch schön, sich daran zu halten!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert