#035: Böblingen: 83,50 Euro – fürs Umgefahren-Werden

📅 August 2019   🏛️ Stadt Böblingen   💬 8 Kommentare Kommentar schreiben

„Raum für Taten und Talente“ – die Stadt Böblingen beweist: Manche Talente liegen im kreativen Umgang mit der StVO


„Raum für Taten und Talente“ – die Stadt Böblingen beweist: Manche Talente liegen im kreativen Umgang mit der StVO

Ein Bußgeldbescheid aus Böblingen vom 22. November 2019 zeigt beispielhaft, wie absurd Verkehrsrecht in der Praxis werden kann. Was war geschehen? Ein Radfahrer wollte am 12. August 2019 um 18:34 Uhr am Postplatz links abbiegen. Soweit nichts Ungewöhnliches – würde man meinen.

Was die StVO vorschreibt

Die Straßenverkehrs-Ordnung ist in § 9 Absatz 1 eindeutig: „Wer nach links abbiegen will, hat sein Fahrzeug […] möglichst weit links einzuordnen, und zwar rechtzeitig.“ Für Radfahrer gilt zwar eine Sonderregelung in § 9 Absatz 2, wonach sie auch vom rechten Fahrbahnrand aus abbiegen dürfen – aber wer sich links einordnet, handelt nicht nur regelkonform, sondern oft auch sicherer und verkehrsflüssiger.

Genau das tat der Radfahrer. Er ordnete sich links ein, wie es das Gesetz vorsieht.

Dann kam das schwarze Auto

Wie auf einem Video dokumentiert ist, wurde der Radfahrer von rechts von einem schwarzen Auto zu Fall gebracht. Man sollte meinen: Klarer Fall von Gefährdung, möglicherweise unzulässiges Überholen, mindestens eine Verkehrsordnungswidrigkeit – des Autofahrers.

Das Bild zeigt einen Bußgeldbescheid der Stadt Böblingen. Der Bescheid richtet sich an einen Herrn Dr. und bezieht sich auf eine Ordnungswidrigkeit, die er am 12.08.2019 als Radfahrer begangen haben soll. Ihm wird vorgeworfen, beim Überholtwerden gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen zu haben, was zu einem Unfall führte. Es werden verschiedene Paragraphen des StVO, StVG, BKat und OWIG genannt. Es wird eine Geldbuße von 55,00 € festgesetzt, zuzüglich Gebühren und Auslagen, was eine Gesamtforderung von 83,50 € ergibt. Der Bescheid enthält außerdem eine Rechtsbehelfsbelehrung, die besagt, dass innerhalb von zwei Wochen Einspruch eingelegt werden kann.

Die behördliche Logik

Doch das Bürger- und Ordnungsamt der Stadt Böblingen sah das anders. Der Bußgeldbescheid richtet sich gegen den Radfahrer. Vorwurf: „Sie verstießen beim Überholtwerden gegen das Rechtsfahrgebot. Es kam zum Unfall.“

Lesen wir das nochmal langsam: „beim Überholtwerden“. Der Radfahrer wurde also überholt, zu Sturz gebracht – und bekommt dafür einen Bußgeldbescheid über 55 Euro Geldbuße plus 28,50 Euro Gebühren und Auslagen. Gesamtforderung: 83,50 Euro.

Die Beweislage

Immerhin dokumentiert der Bescheid selbst die Beweismittel: „Unfallaufnahme, Foto“ sowie mehrere Zeugen von der Polizei. Ein Video zeigt den Hergang. Und trotzdem wird nicht der Autofahrer zur Kasse gebeten, der von rechts kommend einen korrekt eingeordneten Radfahrer zu Fall bringt, sondern das Opfer selbst.

Das eigentliche Problem

Der Fall illustriert ein grundsätzliches Problem im deutschen Straßenverkehr: Die systematische Benachteiligung von Radfahrern. Wer sich an die Regeln hält, links einordnet und dann von einem Auto umgefahren wird, bekommt ein Bußgeld – wegen „Verstoßes gegen das Rechtsfahrgebot beim Überholtwerden“.

ℹ️ Bitte beachte, dass die gemeldeten Fälle nicht vollumfänglich überprüft werden können. Es liegt außerhalb meiner Möglichkeiten, die Richtigkeit aller Informationen zu verifizieren.

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8 Antworten

  1. Fabi

    Hier wurde eigentlich schon alles relevante gesagt, absolut verstörend.
    Mich würde wirklich einmal interessieren wie der Abbiegevorgang laut den Amtspersonen hätte aussehen sollen? Vom rechten Fahrbahnrand plus Hand raus halten hätte der Überholende Ihn doch erst recht überfahren, zumal ein sicher Überholen mit 1,5m Überholabstand ja eh in keinem Szenario möglich gewesen wäre.

    Blankes Entsetzen wenn ich so etwas lesen, mich würde sehr sehr interessieren wie sich die zuständige Behörde ein „korrektes Linksabbiegen“ an der Stelle vorgestellt hätte und ob dann ihrer Meinung nach ein Überholen an dieser Stelle möglich gewesen wäre.

  2. Georg

    Ich schaue mir solche Fälle hin und wieder an, um mich daran zu erinnern, warum ich kein Fahrrad mehr fahren sollte. Hab 2022 damit aufgehört und fange erst wieder an, wenn die Halterhaftung, zu enges Radfahrer überholen als Straftatbestand und die Abschaffung von angeblich fehlendem öffentlichen Interesses (ist natürlich B***) erledigt wurde. Außerdem muss erlaubt werden, im Straßenverkehr nicht nur zu filmen, sondern dies auch ungepixelt hochzuladen. Das wäre gleich eine andere Motivation, wenn Familie, Freunde, Arbeitgeber usw auch mal sehen, was man so für Mist baut. Natürlich muss auch die Infrastruktur an vielen Stellen noch angepasst werden. Überall, wo mehr als 30 erlaubt sind müssen Radwege zur Pflicht werden. Und zwar solche, die nicht neben parkenden Fahrzeugen, ausreichend breit und keine Zweirichtungsradwege (denn das ist auch großer Unsinn, wenn man das Fahrrad als ernsthafte Alternative nutzen möchte und entsprechend 40 fährt). Bis dahin werde ich weiter mit dem Benziner schön CO2 reinblasen und die da oben können sich das mit der Verkehrswende gediegen abschminken. Und nein, Bus und Bahn fahre ich nur, wenns nicht anders geht. Den Indidivualverkehr lasse ich mir nicht nehmen. Da bleibt das Fahrrad die einzige aktuell leider nur theoretische Alternative. Dieser Staat hat in meinen Augen überhaupt gar kein Interesse, den Straßenverkehr zu moderniesieren. Alles nur hohles Gerede von der Politik.

  3. Bert2

    Das sind dann die Straßen, die unsere Kinder(!) sicher(!!) benutzen sollen. Wäre doch zu schön, wenn die Verkehrswende gelingen würde. Aber so wie in diesem Fall, wenn das Opfer neben der eigenen Gesundheit auch noch von der Bußgeldstelle zur Kasse gebeten wird, erzieht man Kinder nicht zur Rücksicht im Verkehr, sondern höchstens zu Egoisten.

  4. Sinform

    @Anne ich hoffe, gegen den Bußgeldbescheid wurde Einspruch eingelegt und ggf. Geklagt, denn der Fall ist aus 2019, jetzt erst Einspruch einzulegen wäre deutlich zu spät. ich erlaube mir noch jeden, dem so einen Fall wiederfährt dazu zu raten, gegen derartige Bußgeldbescheide vorzugehen. Der hier ist offensichtlich rechtswidrig! In der Behörde herrscht die blanke Inkompetenz.

  5. AR

    Mein Beileid für den seelischen Schaden, der bei der Auseinandersetzung mit solch dreist-unsinniger Amtspost entsteht!!

    (Habe die selbe Verkehrs-Situation letzte Woche direkt vor meinem Haus erlebt.) ->Bei mir resultierte mein tief im Linksabbiege-Prozess verankerter „Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot“ erstmal nur darin von einem eilig von hinten aufholenden Auto angehupt zu werden, weil ich mit meinem Einordnen und Abbiegen nicht pro aktiv abgewartet habe, ob das zunächst noch recht entfernt hinter mir befindliche Fahrzeug für seine Geradeaus-Fahrt die Vorfahrt erhalten möchte… auf die anschließenden sexistischen Beleidigungen, die mir noch über weite Distanz aus dem heruntergelassenen Fenster entgegengebrüllt wurden, weil ich nicht nur Radfahrer bin, sondern auch noch weiblich gelesen werde, hätte ich aber gerne verzichtet. Ich finde es befremdlich wenn ein regulärer Abbiegevorgang mit „Was bildest du dir ein? Du hässliche Fotze!“ ‚kritisiert‘ wird.

  6. Bert

    Herr, schmeiß Hirn raa!

    Offenbar wird nur dann gegen einen Unfallverursacher ermittelt, wenn man als Geschädigter auf der Straße liegen bleibt und sich mit dem Krankenwagen ins Spital fahren lässt.

    Unmöglich, was sich Behörden manchmal für Begründungen aus dem Fiedle ziehn. „Sie sind nicht rechts gefahren, als Sie überholt wurden“ – aber jede Art des Überholens in unklarer Verkehrslage nach StVO zu unterbleiben hatte. „Sie hätten den Rad- und Gehweg benutzen können“ – wo gar keiner vorhanden war. „Sie hätten absteigen und auf dem Gehweg den Gegenverkehr passieren lassen können“ – in einer Fahrradstraße.

    Wie lautete im konkreten Fall eigentlich die Begründung des Kraftfahrers? „Habe Radfahrer übersehen?“ – Oder konnte dieser nicht ausfindig gemacht werden?

  7. Anne

    Ich hoffe doch stark, dass Einspruch gegen diesen Bescheid eingelegt wird?
    Das ist doch echt nicht mehr zu fassen!
    Ich würde mich an den Kosten eines weiteren Verfahrensverlaufs beteiligen, Crowfunding evtl?
    Solidarische Grüße aus Dresden

  8. WuhletalRadler

    Das ist doch einfach nur noch Rechtsbeugung. Kann man die verantwortlichen Mitarbeiter bitte feuern? Sie sind offensichtlich nicht geeignet Ihren Job auszuführen.
    Sobald ein Abbiegen angezeigt ist, ist das überholen verboten, was rauchen diese Amtschimmel den bitte?
    Wo sollte hier ein legales überholen möglich sein? Mitten im Kreuzungsbereich? Vll sollte zur Sicherheit, die Führerscheine der Betreffenden Mitarbeiter auch gleich einsammeln.

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